Laura Gehlhaar (*1983 in Düsseldorf) ist eine kritische und streitbare Aktivistin, Feministin und Coach. Seit ihrem 23. Lebensjahr nutzt sie aufgrund einer Muskelerkrankung den Rollstuhl. Sie publiziert zum Thema Barrierefreiheit und setzt sich für eine verbesserte Inklusion von Menschen mit Behinderungen ein.
Frau Gehlhaar, was bedeutet Barrierefreiheit für Sie?
Manche Menschen sagen, Barrierefreiheit beginne im Kopf. Ich mag diese Aussage nicht. Barrierefreiheit bedeutet die Umsetzung von ganz konkreten Dingen. Es geht nicht nur um Rampen und Aufzüge für Rollstuhlfahrer. Barrierefreiheit bedeutet zum Beispiel in Bahnhöfen, dass es auf den Böden Blindenmarkierungen gibt, dass die Durchsagen regelmäßig kommen und für Blinde und Sehbehinderte verständlich sind. Darüber hinaus ist es in den neuen Bahnen sehr hell, und auch die digitalen Anzeigen in der neuen U-Bahn sind hell und farbdifferenziert gestaltet. Das ist großartig.
Was zeichnet eine barrierefreie Webseite aus?
Dazu kann ich ein Beispiel geben, wie eine Internetseite nicht aussehen sollte: Ich wollte vor kurzem mal Karten für ein Konzert von Celine Dion kaufen, ich bin ein großer Fan. Aber auf der Anbieterseite konnte ich nicht auswählen, dass ich einen Rollstuhlplatz brauche. Irgendwann fand ich in einem sehr langen Textfeld weiter unten auf der Seite, dass Rollstuhltickets nur über die telefonische Hotline gekauft werden können, Kosten: 60 Cent pro Anruf. Mir kommen bei sowas mehrere Gedanken: Warum taucht meine Gruppe erst ganz unten in irgendeinem Fließtext auf? Das ist nicht barrierefrei. Telefonate sind auch nicht barrierefrei, und zu allem Überfluss muss man auch noch Geld für den Anruf zahlen. Das ist eine Katastrophe.
Sieht die Situation in anderen Ländern besser aus?
Ich arbeite mehrmals im Jahr in London. In Großbritannien gilt seit einigen Jahren das Gesetz, dass Menschen mit Behinderung den gleichen Service erhalten müssen wie Nicht-Behinderte. Wenn ein Unternehmen oder ein Anbieter dagegen verstößt, ist das gesetzeswidrig. Ich war gerade über eine längere Zeit in den USA. Dort habe ich die beste Erfahrung meines Lebens gemacht. In Colorado konnte ich überall hingehen, wo ich wollte, ohne mir einen einzigen Gedanken machen zu müssen. Es gab immer einen barrierefreien Zugang, es war immer eine Rollstuhltoilette vorhanden.
Was machen die Amerikaner anders als wir Deutschen?
In den USA ist ein starkes Antidiskriminierungsgesetz in Kraft. Das hat eine große Wirkung. Die schönste Erfahrung für mich in den USA war, dass ich jeden Tag viele andere Menschen mit ganz unterschiedlichen Behinderungen gesehen habe. Dadurch habe ich mich erstens nicht so alleine gefühlt und zweitens gleichberechtigt mit allen anderen Leuten. Die Erfahrung, dass ich in den USA die Orte aussuche, die ich besuche, hat mich befreit. Hier in Deutschland ist es so, dass die Orte aussuchen, ob ich sie besuchen darf oder nicht. Das macht mich ganz klein. Manche behinderte Menschen werden dadurch lethargisch.
Was meinen Sie damit?
Man wird in Deutschland zu sehr viel Dankbarkeit erzogen. Ich rege mich zum Beispiel auf, dass ich nicht in jedes Kino gehen kann. Dann heißt es ganz schnell: „Aber Laura, sei doch froh, dass du wenigstens das Cinestar besuchen kannst.“ Wenn du das dein Leben lang hörst, macht das etwas mit dir. Das Selbstbewusstsein wird von außen gedrückt. Du wirst zum Beispiel schon als behindertes Kind auf eine Sonderschule geschickt, während in den USA alle Kinder an regulären Schulen unterrichtet werden.
Was heißt das für das Miteinander im Alltag?
Es geht um Teilhabe und darum, die Menschen einzubeziehen – also um Inklusion. Stellen wir uns mal vor, es gäbe keine Sonderschulen, und behinderte und nicht-behinderte Kinder würden miteinander aufwachsen und miteinander in die Schule gehen – sie hätten auf einmal alle die gleichen Bildungschancen! Behinderte Kinder könnten ihren Schulabschluß machen und genauso auf Ausbildungs- und Studienplatzsuche gehen wie Nicht-Behinderte. Sie hätten dadurch eine bessere Chance, auf den ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Die Menschen in den entscheidenden Positionen würde auf einmal sehen: „Jetzt kommen die ganzen Behinderten, jetzt müssen wir handeln.“
Welche positiven Entwicklungen sehen Sie?
In den vergangenen Jahren hat sich einiges getan. Es wird viel mehr darüber gesprochen, auch von den Behinderten selber. Sie sind generell lauter geworden. Und das ist gut so. Ich bin unglaublich stolz, Teil dieser Bewegung zu sein und sie mit voranzutreiben. Ich glaube, dass es sich irgendwann Unternehmen gar nicht mehr leisten können, behinderte Menschen strukturell auszuschließen.
Weitere Infos zum Thema finden Sie auf Laura Gehlhaars Webseite: www.lauragehlhaar.com.