23. November 2024

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Was Lymphödem-Patient:innen von ihrer ersten Reha erwarten dürfen

Von der Diagnose zum selbstbewussten Umgang mit Lymphödem – dazwischen liegt meist eine intensive Zeit für Betroffene. Es gilt, Wissen und Erfahrungswerte zu sammeln, neue Routinen in den Alltag zu integrieren und medizinische Kompression als wichtigen Begleiter sowie Baustein in der konservativen Therapie anzunehmen. Bei schwerwiegenden Fällen, bei denen beispielsweise die Ausübung des Berufes oder die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aufgrund der Erkrankung nicht mehr möglich ist, kann eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme (Reha) zielführend sein. Jürgen Jakob leidet seit seiner Jugend an einem primären Lymphödem, das sich durch einen Autounfall im Jahr 2011 verschlechtert hat. Im Interview mit dem Medizinprodukte-Hersteller medi geben er und Prof. Dr. Manuel E. Cornely, Facharzt für Dermatologie und Venerologie, Einblicke, wie sich Patient:innen auf ihre erste Reha vorbereiten können und wie der Klinikalltag aussieht.

Lieber Herr Jakob, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Reha- Aufenthalt und wie Sie diesen erlebt haben?

„Das erste Mal ist mein Lymphödem in der Pubertät aufgetreten, als ich circa 15 Jahre alt war. Ich kann mich noch genau daran erinnern, denn ich war in den Ferien bei meiner Oma auf dem Bauernhof, fühlte mich an einem Sommertag schlapp und bekam hohes Fieber und Schüttelfrost. Beide Beine waren von den Füßen bis zum Knie feuerrot, heiß und lagerten Wasser ein. Kurz darauf bin ich das erste Mal in eine Fachklinik für Lymphologie überwiesen worden, wo ich ein Dreivierteljahr behandelt wurde – eine schwierige Zeit für mich. Ich musste meine Ausbildung pausieren, zudem waren die meisten Patient:innen weiblich und in meinem Alter gab es niemanden, mit dem ich mich austauschen konnte. Aber ein Therapeut und seine Freundin haben sich damals sehr nett um mich gekümmert. Zu beiden habe ich Jahre später noch Kontakt gehalten.“

Was hat sich seit Ihrem ersten Aufenthalt vor über 40 Jahren im Bereich der lymphologischen Reha verändert?

„Grundsätzlich bilden die konservativen Therapiemethoden wie die Komplexe Physikalische Entstauungstherapie (KPE) weiterhin die Grundlage der Behandlung, aber die Versorgung mit Produkten zur Entstauung und Erhaltung ist heute fortschrittlicher und individueller. Neben den bewährten Wickelverbänden gibt es beispielsweise medizinische adaptive Kompressionssysteme, die zur Entstauung eingesetzt werden können und mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen. Darüber hinaus ist der Therapieansatz heute ein ganzheitlicher: Zusätzlich zu Sport- und Bewegungsangeboten haben Patient:innen die Möglichkeit, psychologische und psychosoziale Beratung in Anspruch zu nehmen sowie Kurse zu gesunder Ernährung zu belegen. Auch die Ausstattung der Kliniken ist moderner: In der Regel gibt es Ein-, selten Zweibettzimmer, mit eigenem Bad.“

Können Patient:innen Wünsche äußern, welche Klinik sie bevorzugen?

„Ja, das geht. Allerdings gibt es in Deutschland nicht sehr viele Fachkliniken, die sich auf die Behandlung von Lymphödemen spezialisiert haben. Die meisten Patient:innen informieren sich im Vorfeld über die Webseite der Klinik, mittels Online-Bewertungen oder lassen sich Empfehlungen von anderen Betroffenen geben. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass dem Wunsch von Patient:innen oft nachgekommen wird, sofern die grundlegenden Voraussetzungen für die Reha erfüllt sind. Zudem steigert es die Chancen, eine Begründung mitzuliefern, zum Beispiel, dass das spezielle Therapieangebot der Wunschklinik gänzlich auf das Krankheitsbild Lymphödem zugeschnitten ist. Ein Anrecht auf die Wunschklinik haben Patient:innen jedoch nicht.“

Wie lange dauert es in der Regel, bis eine Reha bewilligt wird?

„Gesetzlich Versicherte müssen zuerst einen Antrag bei der Krankenkasse beziehungsweise beim Rentenversicherungsträger stellen, danach erhalten sie ein Formular zu einem Gutachten, das sie mit ihrer:m Fachärzt:in ausfüllen: Wie ist die Krankengeschichte? Welche Therapiemaßnahmen gab es bisher mit welchem Ergebnis? Aus welchem Grund ist eine Rehabilitation medizinisch dringend notwendig? Welche Ziele sollen mit der Maßnahme erreicht werden? Wie lange es dauert, bis eine Reha schlussendlich bewilligt wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab und kann nicht pauschal beantwortet werden.“

Prof. Cornely, Sie sind Facharzt für Dermatologie und Venerologie mit einem Schwerpunkt in Angewandter Lymphologie. Wann ist eine Rehabilitationsmaßnahme bei Lymphödem medizinisch zwingend notwendig?

„Ist die Erwerbsfähigkeit von Lymphödem-Betroffenen erheblich gefährdet oder bereits gemindert, dann ist eine stationäre Reha das Mittel zum Zweck, um die Lage von Patient:innen zu verbessern, Beschwerden zu vermindern oder aber eine weitere Verschlechterung zu vermeiden. Zu beachten ist, dass stationäre Maßnahmen grundsätzlich nur genehmigt werden, wenn ambulante Therapien nicht den gewünschten Erfolg bringen oder aus anderen Gründen, zum Beispiel familiäre Belastungen, nicht möglich sind.“

Woher wissen Patient:innen, an welchen Kostenträger sie sich wenden sollen?

„Sind Patient:innen berufstätig und soll die Reha helfen, die Erwerbsfähigkeit aufrechtzuerhalten beziehungsweise wiederherzustellen, ist die gesetzliche Rentenversicherung zuständig. Sie übernimmt Reisekosten, Unterkunft, Verpflegung sowie medizinische und therapeutische Leistungen – Patient:innen leisten lediglich eine Zuzahlung von höchstens zehn Euro pro Tag. Bei Nichterwerbstätigen wie Rentner:innen sind die Krankenkassen zuständig, bei Berufskrankheiten oder nach Arbeitsunfällen ist die gesetzliche Unfallversicherung der richtige Ansprechpartner.“

Was können Patient:innen unternehmen, wenn ihr Antrag abgelehnt wird?

„Das passiert in der ersten Instanz leider häufig. Umso wichtiger ist es, bei der Antragstellung präzise auf all jene Aspekte der Krankheit, Risikofaktoren, beruflicher und sozialer Belastung einzugehen, die die Notwendigkeit der gewünschten Reha-Maßnahme begründen. Plus konkrete und realistische Reha-Ziele formulieren ebenso wie alle ambulanten Therapiemaßnahmen auflisten, die bisher unternommen
wurden. Wird der Antrag dennoch abgelehnt, können Betroffene innerhalb eines Monats nach Erhalt des Bescheids einen schriftlichen Widerspruch einlegen. Hier wäre eine intensivere Vernetzung aller beteiligten Stellen für das Wohl der Patient:innen wünschenswert.“

Wie lange dauert in der Regel eine Reha?

„In fast allen Fällen wird eine Reha erst einmal für drei Wochen genehmigt. Dies kann je nach Fall noch einmal verlängert werden, wenn sich der Erfolg der Therapie zum Beispiel nicht in dem beantragten Zeitraum einstellt und weitere Behandlungen notwendig sind. Ziel ist es immer, die Patient:innen mobiler zu entlassen und sie dazu zu befähigen, aktiv und selbstbestimmt mit ihrer Erkrankung im Alltag umzugehen.“

Wie häufig können Lymphödem-Betroffene eine Reha beantragen?

„In der Regel können Lymphödem-Patient:innen nach vier Jahren die nächste Reha-Maßnahme erhalten. Sind allerdings aus gesundheitlichen Gründen vorzeitige Leistungen und stationäre Maßnahmen dringend erforderlich, kann eine Reha auch früher genehmigt werden. Leider gibt es in Deutschland im Vergleich zu vor 30 Jahren nur noch wenige Fachkliniken für Lymphologie, die umfangreiche stationäre Behandlungs- und Rehabilitationsmethoden anbieten – meines Wissens nur noch vier. Reha-Plätze sind gesucht! Ein Grund, weshalb Kostenträger heutzutage restriktiver sind und jeden Antrag sorgfältig prüfen.“

Lieber Herr Jakob, was sollten Lymphödem-Betroffene unbedingt für ihre Reha einpacken?

„Wird die Reha bewilligt, erhalten Patient:innen einen Aufklärungsbogen zur Anreise, Parkmöglichkeiten etc. und eine Checkliste, was sie für den Aufenthalt alles benötigen: zum Beispiel Versichertenkarte, Medikamentenplan, vorhandene Untersuchungsbefunde, bereits erhaltene Hilfsmittel und vieles mehr. Unbedingt einpacken sollten Patient:innen weite Hosen, die über die Wickelbandagierung getragen werden können, und Schuhe mindestens ein oder zwei Größen größer als gewöhnlich. Es gibt auch spezielle Verbandschuhe – diese sind flexibel anpassbar und bieten besonders viel Platz für gewickelte und geschwollene Füße.“

Wie sieht der Alltag in der Reha aus?

„Wichtig im Vorfeld zu wissen: Eine Reha ist kein Urlaub und erfordert ein hohes Maß an Engagement und Eigenverantwortung. Wer nicht bereit ist, dies zu investieren und den Empfehlungen der Ärzt:innen sowie Therapeut:innen zu folgen, wird keinen Nutzen daraus ziehen. Zu Beginn des Aufenthalts erarbeiten Patient:innen mit ihren behandelnden Ärzt:innen einen Reha-Plan, der individuell zugeschnitten ist auf ihre Bedürfnisse und Ziele. Meistens beginnt der Tag früh morgens mit einer manuellen Lymphdrainage, um den Lymphfluss zu aktivieren und das Volumen des Lymphödems zu reduzieren. Danach werden die betroffenen Extremitäten wie Arme und / oder Beine bandagiert, um die Wirkung der manuellen Lymphdrainage zu verstärken beziehungsweise zu erhalten. Im Anschluss finden Arztvisiten statt, Gespräche mit Therapeut:innen und Gruppentherapie. Die Patient:innen haben die Möglichkeit, Fachvorträge oder Kochkurse zu besuchen. Allen Betroffenen kann ich nur die vielseitigen Sportangebote ans Herz legen wie Nordic Walking, Radfahren, Krafttraining oder Schwimmen. Sport in medizinischer Kompression beziehungsweise Wickelbandagierung ist besonders effizient und sollte, auch wenn es beschwerlich ist, integraler Bestandteil des Therapiemixes sein. Es gilt für Patient:innen zu verstehen, dass eigenverantwortliches Training und Selbstmanagement den Grad ihres Erfolgs maßgeblich beeinflussen!“

Wie viele Stunden sollten Patient:innen ungefähr für ihre Therapiemaßnahmen einplanen?

„Wer die Reha als echte Chance wahrnehmen und an seiner Situation arbeiten möchte, sollte mit acht Stunden täglich rechnen. Am Abend werden die Wickelverbände wieder entfernt und ein zweites Mal eine Manuelle Lymphdrainage durchgeführt. Nach dem Abendessen gibt es meist noch gemeinsame Aktivitäten wie Filmvorführungen oder Gruppendiskussionen. Dieser Austausch mit Gleichgesinnten verbindet. Zu merken, dass viele Menschen gut mit einem Lymphödem leben können, kann Betroffenen Ängste und Sorgen nehmen. Häufig findet genau in der Gemeinschaft ein Umdenken statt, dass niemand der Erkrankung hilflos ausgeliefert ist, sondern jede:r Betroffene eigenverantwortlich etwas tun kann. Eine Reha kann die Initialzündung dafür sein, sein Leben deutlich zu verbessern und Verhaltensänderungen in den Alltag zu integrieren.“

Wie geht es nach der Reha weiter?

„Am Ende des Aufenthalts finden eine ärztliche Untersuchung und ein Gespräch statt. In einem Abschlussbericht halten Patient:in und Ärzt:in die Veränderungen im Vergleich zur Situation bei Antritt der Reha fest und bewerten die Verbesserungen. Dieser Bericht geht an die:den behandelnde:n Ärzt:in. Hier sehe ich viel Potenzial, dass Reha-Ärzt:innen sich im Nachgang mit den niedergelassenen Ärzt:innen besser vernetzen und Informationen austauschen können, um die Erfolge für Patient:innen nachhaltiger zu verankern. Denn für viele ist gerade der Übergang von der Reha zurück ins Arbeitsleben herausfordernd. Sofern möglich, kann ich jeder:m nur raten, sich einige Tage Urlaub einzuplanen, um von der geschützten Welt einer Reha zurück in den Alltag zu finden. Auch ein ärztlicher Folgetermin ist empfehlenswert, um die nächsten ambulanten Therapieschritte zu besprechen.“

Herzlichen Dank für die wertvollen Tipps und das Interview!

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